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Wer mit Komplexität rechnet, sollte auf Sinn setzen – ein Interview über Purpose Driven Organizations mit Franziska Fink

In Unternehmen, die sich in sehr komplexen, dynamischen Umwelten bewegen, sind Pläne schneller veraltet als sie erstellt werden können. Stattdessen kann ein gemeinsamer Purpose – ein tiefgreifendes Gefühl für einen gemeinsamen „Sinn“, die zentrale Richtschnur des Handelns bilden, an dem sich alle Entscheidungen des Unternehmens ausrichten.

In Unternehmen, die sich in sehr komplexen, dynamischen Umwelten bewegen, sind Pläne schneller veraltet als sie erstellt werden können. Stattdessen kann ein gemeinsamer Purpose - ein tiefgreifendes Gefühl für einen gemeinsamen "Sinn", die zentrale Richtschnur des Handelns bilden, an dem sich alle Entscheidungen des Unternehmens ausrichten.

Franziska Fink ist systemische Beraterin und Partnerin bei der Beratergruppe Neuwaldegg GmbH in Wien. Gemeinsam mit ihrem Kollegen Michael Moeller hat sie das Buch „Purpose Driven Organizations“ verfasst, das 2018 erschienen ist.

Barbara Kump: Welche Beobachtungen aus eurer Beratungspraxis zu gesellschaftlichen Entwicklungen haben euch denn inspiriert, ein Buch über „Purpose Driven Organizations“ zu schreiben?

Franziska Fink: Das Buch war von außen und innen inspiriert. Außen, weil unsere Kunden seit Anfang der 10er Jahre immer öfter mit den Themen zu uns kamen: Wie funktioniert Selbstorganisation? Wie sieht sinnvolle Steuerung aus? Und von innen, weil es uns beide schon lang umtreibt, mit dem Purpose von Personen und von Organisationen zu arbeiten. Wir sind sowohl als Michael und Franziska, als auch mit unserer Firma Purpose-getrieben.

BK: In den letzten Jahrzehnten wurde auf Hochschulen und in Beratungsunternehmen gepredigt: Unternehmen brauchen Vision, Mission, und Strategie – wozu brauchen sie nun auch noch einen „Purpose“?

FF: Ich steige die Predigtkanzel nicht hinauf. Ich glaube nicht, dass es DIE EINE Steuerungslösung für Unternehmen gibt – die dann zufällig nach ein paar Jahren wieder von einer neuen Managementlehre abgelöst wird. Je nach Kontext der Organisation passen bestimmte Steuerungsmodelle. Die meisten Organisationen tun sich leichter, wenn sie wissen, wo sie hinwollen und wie sie dorthin gelangen – da helfen Vision-Mission-Strategie. Aber der mechanistische Managementansatz hat Grenzen. Je höher die Komplexität, in der eine Organisation sich bewegt, umso geringer die Planbarkeit. In Unternehmen, die mit einer enormen Vielfalt an Möglichkeiten konfrontiert sind und mit einer hohen Dynamik der Umweltveränderungen, sind Ziele, Pläne und Strukturen schneller veraltet und unbrauchbar, als sie überhaupt im Unternehmen kommuniziert und verankert werden können. Hier wird Purpose für die Steuerung relevant. Er ermöglicht, neue Gelegenheiten zu erkennen und zu nutzen. Dafür ist die Kreativität und Innovationskraft der gesamten Organisation gefragt. Statt detaillierter Drei-Jahres-Strategien findet ein laufendes Strategizing statt, in dem ständig neu priorisiert wird. Direktive Vorgaben würden die Entfaltung der notwendigen Kreativität Aller nur verhindern. Führung bedeutet hier Kontextsteuerung. Sie schafft den Rahmen und stellt die Ressourcen bereit (Personal, Budget, Zugänge). Die konkreten Wege und Lösungen entstehen durch die mit Entscheidungsfreiräumen ausgestatteten Mitarbeitenden – der Purpose als zentrale Richtschnur für Entscheidungen stellt sicher, dass die Organisation sich weiterhin ihrem Zweck entgegen bewegt. Mit Kunden, die mit dem Wunsch nach Purpose-Steuerung kommen, schaue ich mir deshalb erst gemeinsam an, wo ihr Unternehmen auf der Komplexitätsmatrix liegt und ob Purpose da überhaupt hilfreich ist.

BK: Ist Purpose nicht nur ein neues Marketing-Schlagwort?   

FF: Das fürchte ich auch. Alle springen auf den Zug auf und es scheint jetzt schick, sich mit einem Purpose zu schmücken. Ich unterscheide zwischen einem fancy Purpose und einem echten Purpose. Einen echten Purpose erkennt man daran, dass er einen Gemeinwohlbezug hat und gesellschaftlichen Nutzen anstrebt. Ein fancy Purpose klingt gut, aber fragt nicht ernsthaft nach gesellschaftlichem Impact oder Verantwortung. Zum Beispiel die Fluggesellschaft Southwest mit dem Purpose »To compete against the car and the bus, so that everyone is now free to move around the country.« hat aus meiner Sicht nicht ernsthaft nach dem Gemeinwohlbezug und der ökologischen Auswirkung ihres Angebots gefragt. Oder der Versandhändler Zappos mit »Deliver happiness to the world.« Das klingt super, aber macht der ökologische Fußabdruck dieses Versand- und Retourenwahnsinns die nachfolgenden Generationen wirklich happy?

BK: Wie findet ein Unternehmen seinen Purpose?

FF: Dafür gibt es verschiedene Wege – ich habe es mit Kunden schon in drei Stunden geschafft und andere Quests brauchen vier Tage plus Vorbereitungsphase. Das differiert je nach Organisationsgröße, -reife, -kultur. Wo alle unterwegs zum Purpose vorbeikommen, ist, den Lebensweg der Organisation nachzuvollziehen: Was war der Gründungsimpuls? Wie hat sich das WOZU seither verändert? Was sind die Perspektiven der Stakeholder – was sagen Kunden, Partner, Lieferanten, Kapitalgebende, etc. über das WOZU der Organisation? Was sind die Bilder der Organisationsmitglieder? Was sind die Zahlen, Daten und Fakten des aktuellen Geschäfts? Was sind die Marktprognosen und Zukunftsszenarien?
Dann gibt es eine Phase des wieder Loslassens dieses brainfoods und angelehnt an den Scharmer’schen U-Prozess einen leeren Raum, in dem der Purpose Form annimmt. In unserem Buch beschreiben wir verschiedene Methoden im Detail. Die zwei Schritte, die anschließend entscheidend sind: Wie wird der Purpose für alle Mitarbeitenden relevant? Und wie operationalisieren wir ihn in jedem Bereich der Organisation?

BK: Muss ein Purpose auf breiter Basis entwickelt werden? Oder reicht es, wenn der Purpose „oben“ entwickelt und an die Mitarbeitenden weiter gegeben wird?

FF: Das ist eine gute Frage! Ich glaube, entscheidender, als das Produkt einer Purpose Quest, ist ihr Prozess. Sich gemeinsam in einen Diskurs zu begeben – WOZU gibt es uns? – bringt Purpose als dominante Entscheidungsprämisse kollektiv in den Blick. Die Annäherung, das Hineinleuchten in alle Winkel des Systems, das Ringen um eine Formulierung, führen zu einem gemeinsamen Bild, das viel mehr kann, als der Satz, der am Ende dasteht. Es ist der Prozess, der dem Satz die Wirkung verleiht. Und deshalb sollten alle einbezogen sein. Das heißt nicht, dass 1.500 Leute plenar einen Satz basteln. Es braucht gute Formate, wo eine Kerngruppe vorangeht, sich Inputs von außen holt, zum Purpose vortastet und dann wie Zwiebelschalen, den Purpose mit den anderen teilt. Jene die nicht dabei waren, müssen auf die innere Reise mitgenommen werden, die Qualitäten spüren, Zeit haben, um sich mit dem „Ding“ auseinanderzusetzen, so dass dann jeder in der Lage ist, den Purpose für die eigene Rolle und das eigene Geschäft zu operationalisieren.

BK: Wie müssen sich traditionelle Unternehmen ändern, um Purpose-gesteuert arbeiten zu können? Wovon müssen sie sich verabschieden?

FF: Kommt darauf an, ob es ein fancy Purpose oder ein echter Purpose sein soll. Für einen echten Purpose braucht es für klassisch hierarchische Unternehmen eine Veränderung zweiter Ordnung, also eine tiefgreifende Transformation. Purpose bekommt ein besonderes Gewicht in der Entwicklung und Selbststeuerung der Organisation – er wird zur dominanten Entscheidungsprämisse. Die Sinnorientierung von Entscheidungen wird laufend reflektiert, Meetings werden danach evaluiert, das Recruiting achtet auf Purpose-fit der Bewerber. Statt Konditionalprogrammen (wenn … dann …) gibt es Zweckprogramme, die das erwartete Ergebnis definieren und die Wahl der Mittel und Wege zur Erreichung offenlassen. Es geht um Orientierung und Ausrichtung, nicht um Planung und Kontrolle. Purpose Driven Organizations planen meist wenig – Purpose, rasche Umsetzungsschritte und Experimente ersetzen strategische Planung und Budgetierung. Diese Liste könnte ich noch weiterführen, aber wer sich wirklich fürs Detail interessiert, dem sei unser Buch empfohlen.

BK: Für wen funktioniert Purpose nicht?

FF: Mir fallen gleich zwei Gruppen dazu ein:

Erstens Unternehmen, die mit niedriger Komplexität konfrontiert sind, die Leistungen als Standardprodukte vermarkten und in Massenproduktion herstellen. Ihr Fokus im Management liegt auf Effizienz und Produktivität. Da helfen Prozessmanagement, Planung, Kontrolle und der Blick auf eine Handvoll KPI.

Und zweites Unternehmen in einer wirtschaftlichen Krisensituation. Sie leiden unter extremer Volatilität, gleichzeitig schrumpft die Menge der relevanten Parameter für Entscheidungen und die Zahl der Möglichkeiten. Es geht ums Überleben und täglich zuerst um Liquidität.

Diese beiden Gruppen über Purpose steuern zu wollen, wird scheitern. Hier sind klassisches Management und hierarchische Organisationsstrukturen wirksamer.

BK: In eurem Buch schreibt ihr über Genügsamkeit und Selbstbeschränkung als Grund-Haltung, damit Selbstorganisation funktionieren kann. Steht das nicht diametral zu den vorherrschenden Prinzipien der globalen Marktwirtschaft?

FF: (grinst) Das mag sein. Aber wenn niemand anfängt, es anders zu machen, dann wird sich auch unser Wirtschaftssystem nicht ändern.

BK: Was denkst du, wie sich Unternehmen in Zukunft weiter entwickeln werden?

FF: Das ist auch eine gute Frage. Da wäre ich gern die allwissende Erzählerin anstatt Franziska, die mit ihrer Brille durch die Welt läuft und natürlich vieles von dem sieht, womit sie sich meistens beschäftigt. Wenn ich mal bei dieser Brille bleibe, dann prognostiziere ich, dass Organisationen sich – nach dem allgemeinen Byebye zum Kapitalismus – mit ihrem Beitrag zum Gemeinwohl beschäftigen und wir wirklich noch ein neues Paradigma des Wirtschaftens mitgestalten können.

BK: Eine letzte Frage: Als Beratungsunternehmen seht ihr euch ja auch als Labor, um an euch selbst neue Organisationsformen zu erproben. Welche Lösungen probiert ihr selbst gerade aus?

FF: Wir machen das wie die Homöopathen – probieren alles erst am eigenen Leib aus, bevor wir etwas zu Kunden mitnehmen. Das ist zwar anstrengender als jene Kollegen, die sich Themen über Nacht anlesen und morgens dem Kunden verkaufen, aber Organisationales muss man erleben und „erleiden“, um es auch theoretisch zu durchdringen. Wir haben 2012 ein Selbstorganisationsmodell implementiert und entwickeln seither auch unseren eigenen Purpose laufend weiter. Unser Purpose ist: Wir machen Organisation neu. Mit Menschen, die Organisationen entwickeln wollen – damit die Welt heute und in Zukunft menschliche Bedürfnisse und Hoffnungen erfüllen kann.

BK: Vielen Dank für das interessante Interview!